DIE NIBELUNGEN

Schauspiel in drei Abteilungen von Friedrich Hebbel

"Die blutigen Kometen sind am Himmel
anstatt der frommen Sterne aufgezogen
und blitzen dunkel in die Welt hinein."

 

Ein Mann kommt über die Ebene und zieht einen Sarg hinter sich her. Spiel mir das Lied vom Tod, Volker, spiel mir das Lied vom Untergang Burgunds!

Die Nibelungensage ist eine Parabel über die zerstörerische Kraft einer sinnentleerten Idee. Kein blindes Schicksal treibt die Helden in den Untergang, ihr Tod ist das Ergebnis von Macht- und Habgier, Eifersucht und Rache. Um diese Geschichte vom Ballast ihrer Rezeptionsgeschichte zu befreien, holen wir sie aus den mythologischen Nebeln einer unbestimmten Vorzeit heraus und versetzen sie in den amerikanischen Westen des späten 19. Jahrhunderts. Dort sind die Pioniere angekommen und befinden sich in einem beinahe rechtsfreien Raum, wo sich dei moral dem Recht des Stärkeren beugt und Gewalt an der Tagesordnung ist. Der Western führt das Nibelungenlied an seinen Ursprung zurück.Die Figuren werden vom Heldensockel gestoßen und treten als Menschen hinter den Charaktermasken hervor, zu denen sie über die Jahrhunderte erstarrt sind.

Das Nibelungenlied der Edda erzählt eine Geschichte, über die der Tod von Anfang an seinen Schatten gelegt hat.Siegfrieds Kampf mit dem Lindwurm, sein bad im Drachenblut und die draus resultierende Unverwundbarkeit haben ihn außerhalb der geltenden Regeln der Gesellschaft gestellt. Siegfried ist kein Mensch mehr, er ist, wie Hagen klarsichtig feststellt, selbst zum Drachen geworden, "und Drachen schlägt man tot". Da er die Souveränität der burgundischen Herrscher in Frage stellt und ein fairer Kmpf mit ihm nicht möglich ist, bleibt als Lösung scheinbar nur der Speer im Rücken. Im Zweckrationalen Denken Hagens enthält die schlichte Durchführbarkeit des Mordes bereits ihre Legitimation. Hagen will die Ordnung der Dinge bewahren und befördert mit seinem handeln doch ihre Auflösung: Nach Siegfrieds Tod lebt der Drache in ihm weiter.

 

CREDITS

 

Regie: Uli Jäckle | Musikalische Leitung: Mary Kauffman | Bühnenmusik: Frank Wacks | Sound Design: Roman Keller | Bühne: Thomas Rump | Kostüme: Elena Anatolevna

mit Irene Eichenberger, Juliane Elting, Theodora Ogden, Annabelle Schäll, Luzia Schelling, Florian Brandhorst, Sven Brormann, Arnd Heuwinkel, Thomas Klees, Karl Miller, Andreas Thorwesten, Bernhard Twickler, Frank Wacks; Chor und Orchester des Stadttheaters Hildesheim

Koproduktion mit dem Stadttheater Hildesheim

 

TERMINE

 

  •     27. Mär. 2004 | Stadttheater Hildesheim | Premiere

 

PRESSESTIMMEN

 

BRACHIALE BRECHUNG

"Irgendwo in der Wüste. Ein Desperado lungert am Ausgang eines Eisenbahntunnels. Läßig zündet er sich einen Zigarillo an und jagt nebenbei den herandampfenden Zug in die Luft. Aus dem Tunnel quillt Rauch hervor, er hüllt ihn rundum ein, bevor sich der Ganove mit zwei Geldsäcken aus dem Staub macht. Nur einen kleinen Fleck auf der Schulter hat der Rauch nicht erreicht, dort haftet ein Lindenblatt. Ja wahrhaftig, ein Lindenblatt. Der coole Bursche ist nicht Clint Eastwood, sondern Siegfried, der Held der Nibelungensage. Jäckle läßt den Zuschauern Zeit, in die Atmosphäre einzutauchen. Die Bühne ist schräg, aus rohen, starken Holzbohlen gezimmert, diagonal zerschnitten von den Bahngleisen und sonst fast leer. Warmes Wüstenlicht. Stille, die nur vom Sirren eines Moskitos durchbrochen wird. Wer hätte gedacht, dass die Weite eines Westerns auf der Bühne eines Stadttheaters Platz findet? Das Orchester spielt samtige, stimmungsvolle Arrengements von Filmmusikklassikern aus der Feder Ennio Morricones, manchmal ist es auch nur das Banjo des Spielmanns Volker (Frank Wachs), das einsam durch die Szenerie plänkelt.

Im Zentrum des Geschehens steht Hagen von Tronje. Sven Brormann spielt ihn als souveräne Mischung aus falschem Ehrgefühl, duraus nicht selbstloser Treue, Eifersucht und widerwärtiger Niedertracht. Er ist der Manipulator, an dessen Fäden alle andern zappeln. Dass König Gunther, von Thomas Klees überzeugend als Schwächling ohne jedes Rückgrat gespielt, gegen diesen Mann keine Chance hat, steht außer Frage. Gleiches gilt für die anderen Burgunder in ihren protzig wehenden Mänteln, aber auch für den mal kindischen, mal machtgeilen Siegfried (Arnd Heuwinkel). Nicht einmal Kriemhild kann mit Hagen auf Augenhöhe verhandeln, obwohl Luzia Schelling den Wandel von der naiven jungen Liebenden zur verhärmten und rachsüchtigen, gereiften Frau mit eindrucksvoller Vehemenz verkörpert. Auf dass die Nibelungen keine Indoor-Version der Bad Segeberger Karl-May-Festspiele werden, hat Jäckle den Originaltext aus Hebbels Schauspiel beibehalten. Könige werden mitnichten zu Rinderbaronen, Island bleibt Island, auch wenn die Reise dorthin mit dem Dampfross angetreten wird: Die Nibelungen sind im Wilden Westen angekommen, und der Brückenschlag gelingt."

Ralf Neite, Theater der Zeit, Mai 2004

 

SIEGFRIED IM SALOON

"Ein Cowboy stolpert durch die Schwingtür des Saloons, ein Pfeil steckt in seinem Rücken. Röchelnd bricht der Mann zusammen, mit letzter Kraft ruft er: "DIE sachsen kommen!" Es ist ein Kreuz mit den großen alten Stoffen, die das Theater immer wieder aufs Neue schultern muss. Zumal bei einer Geschichte wie den Nibelungen, die durch Wagners "Ring" mit soviel Bedeutung aufgeladen sind, dass einem schwindlig werden kann. Was also tun, wenn man nicht spielen will, was andere schon tausendmal gespielt haben? Uli Jäckle hat bei seiner Fassung für das Hilesheimer Stadttheater, einer Koproduktion mit dem freien Thetaer ASPIK, den Stoff näher herangeholt - nicht in die Gegenwart, wohl aber in die jüngere Vergangenheit. Seine Nibelungen sind Desperados in wehenden Mänteln, Utes Reifrock ist ein überdimensionaler Cowboyhut, Brunhild erscheint als eisige Squaw. Es dauert eine Weile, bis man sich hineinfindet in dieses eigenwillige Konstrukt, in dem die Bilder so anders sind als das, was man hört. Denn mit wenigen Ausnahmen wurde der 140 Jahre alte Text von Hebbels Schauspiel beibehalten. Dass die Irritation einer wachsenden Faszination weicht, hat mehrere Gründe. Zum einen liegt es an der sinnlichen Livemusik vom Orchester und Chor des Stadttheaters unter der Leitung von Mary Adelyn Kauffmann: Morricone pur. Außerdem kann Jäckle die komplizierte Nibelungensage durch plastische Bilder erzählen statt durch endlose Dialoge. Wie auf der Fahrt zur Etzelburg: Die Niebelungen stürzen im Sturm über eine schiefe Holzfläche, während Hagen das Ruder nimmt und zum Kapitän Ahab mutiert, der seine Männer ins Verderben treibt. Sven Brormann spielt diesen Hagen als Brillante Mischung aus falschem Ehrgefühl, Treue und Niedertracht. Darstellerisch stark auch der unentschlossene König Gunther (Thomas Klees) und die naive bis kalt-verhärmte Kriemhild (Luzia Schelling). Im dritten teil nimmt man die Diskrepanz zwischen Wort und Bild längst nicht mehr wahr. Die verrückte Idee geht auf: Die Nibelungen sind im Wilden Westen angekommen, ohne sich lächerlich zu machen."

Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29. März 2004

 

SPIEL MIR DAS LIED VON DEN NIBELUNGEN

"(...) Der geniale Stummfilm-Prolog bietet die Transformationsschiene, um aus dem mythischen Nebel der Spätanike in den amerikanischen Westen des späten 19. jahrhunderts zu gelangen. Ein äußerst gewagter Versuch, um Friedrich hebbels 150 Jahre altes Trauerspiel und die Mythen der "Edda" -die Nationalsozialisten benutzten beides als Steinbruch für ihre Ideologie- zu entrümpeln. Schon damals ging es um die großen menschlichen Themen Liebe, Verrat, Rache, Mord. Themen, derer sich meist auch das Westerngenre mit mehr oder minder viel Schießpulver und Hufgetrampel bemächtigt. Jäckles knapp zweieinhalbstündige, spannende und unetrhaltsame Inszenierung beweiszt, dass die Folie Western funktioniert, sie netführt das Publikum in den Wilden Westen und läßt es hier dei Geschichte vom strahlenden Siegfried und dem düsteren Hagen, von Brunhilds Schmach und Kriemhilds Rache und den gesang der Burgunderkönige erleben. Jäckle läßt einen Film ablaufen, dessen Bildermacht und musikalische Emotionaliät den Abend zu einem Erlebnis machen. Er behauptet gewaltige Tonkulissen (fantastischer Sound von Roman Keller), Stürme, Regenfluten, Mückenplagen. Ein Abend mit gewaltigen Bildern -trotz einiger Längen- in rumpelnden Zügen, monumentalen Palästen, auf sturmgepeitschten Schiffen. Und alles mit sparsamen Miitteln: Bretterboden auf der schrägen, drehfreudigen Bühne , fünf Saloontüren, ein paar Stühle. (Bühnenbildner Thomas Rump beweist, dass auch in Bescheidenheit Größe liegen kann), authentisch-originelle Kostüme, atmosphärische Lichtstimmungen und viel schauspielerisches Engagement.

Jäckle holt die großen Helden vom germanischen Heldensockel. Siegfreid (ziemlich locker und gut drauf: Arnd Heuwinkel) ist ein schmuddeliger Gelegenheitskiller, der -glücklicherweise unverwundbar- alles macht, was König Gunther von ihm will. Ein großmäuliger Lümmel. Warum sich die stolze Kriemhild (beeindruckend: Luzia Schelling als unterschwellig brodelnde Dame zwischen liebreizender Unschuld und eisiger Rächerin) ausgerechnet in diesen Heldentrottel verliebt, bleibt ein Geheimnis. (...) Jäckle hat nicht nur die Nibelungen in die Westernwelt verlegt, er bietet Cineasten auch einen kurzweiligen Ritt durch Szenen und Melodien aus berühmten Filmen, Sergiom Leone und Jim Jarmusch hätten ihre Freude daran. Das Publikum quittierte die Reise vom staubigen Arizona über das eisige Isalnd ins feucht-schwüle Mexico mit großem Beifall. (...)"

Martina Prante, Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 29. märz 2004