TATI TIME

Theater ASPIK spielt keinen Film von Tati nach, sondern setzt sich mit dem System Tati auseinander. TATITIME spürt Jacques Tatis Vision einer sich immer schneller verändernden Welt nach. Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne stolpern die Figuren des Stücks durch die Unbilden des Alltags, in dem die Dinge ein Eigenleben zu führen scheinen. Sie verstricken sich in eine Welt voller Chindogus - Gegenstände, die eine sinnlose Lösung liefern für ein Problem, das wir noch gar nicht kannten. TATI TIME ist das Unterfangen von Theater ASPIK, Jacques Tatis Vision einer sich immer schneller verändernden Welt in 70 Minuten Theaterzeit zu brennen. Wir starten morgens in einer ländlichen Welt, in der Zeit geanuso selbstverständlich verfügbar ist wie die Luft zum Atmen und alles seinen gewohnten gang zu nehmen scheint. Und wir landen abends in einer durchgestylten, retro-futuristischen und lebensfeindlichen Designwelt, die am Ende, als das unbeherrschbare Chaos ausbricht, implodiert.

Schritt für Schritt beschreiben Jacques Tatis Filme den Weg durch ein halbes Jahrhundert des Fortschritts und der Beschleunigung: "Rapidité! Rapidité!" - die Devise des naiven Briefträgers Francois wird nach und nach zum Diktat für alle. Zeit ist nicht mehr frei verfügbar, sondern eine Art Rohstoff, der möglichst effizient ausgenutzt werden muss. Dieses Prinzip durchdringt sämtliche Lebensbereiche: Der Unterschied zwischen Arbeits- und Freizeit verwischt bis zur Unkenntlichkeit, übrig bleiben nur die durchstrukturierten Zeiträume, die das moderne Leben regeln. Tati hat diese Entwicklung wie kaum ein anderer von Film zu Film weiter verfolgt und dabei die einzelnen Etappen mit seiner eigenwilligen Poesie so überhöht, dass beim Anschauen seiner Filme ein neues, vielleicht utopisches Zeitempfinden entsteht.

TATI, JACQUES:

Wir kennen ihn als Monsieur Hulot, den höflichen, stets etwas überforderten Zeitgenossen, der sich mit sympathischem Eigensinn in einer immer komplizierteren Welt zurechtzufinden sucht. Oder als kauzigen Briefträger Francois, der in einem verschlafenen Dorf die Zeichen der Zeit erkennt und die Postzustellung nach amerikanischem Vorbild beschleunigen will.Jacques Tati war ein exzellenter Komiker und ist neben seinen amerikanischen Vorgängern Chaplin, Keaton, Laurel&Hardy der wichtigste (einzige?) europäische Klassiker unter den Komiker-Filmautoren.Ganz abgesehen davon aber war Tati als Filmregisseur derart kompromisslos, perfektionistisch und visionär, dass seine Filme aus heutiger Sicht durch ihre ästhetische Qualität und die genau beobachteten Lebensumstände der dargestellten Epoche (von den Nachkriegsjahren in "Jour de fête" 1949 bis zu den bewegten Siebzigern in "Trafic" 1971) mindestens genauso bestechen wie durch die Komik ihrer Hauptfigur. Mit jedem seiner fünf Kinospielfilme hat Tati Neuland betreten, viel gewagt, konstruiert und experimentiert. So wurde für "Jour de fête" (1949) -übrigens der Pilotfilm für das erste europäische Farbfilmverfahren- die Bevölkerung eines ganzen Dorfes in die Dreharbeit mit einbezogen oder für "Playtime" (gedreht im 70 mm Breitwandformat) auf einem Areal von 15000 m2 eigens eine futuristische Attrappenstadt mit sterilen Stahl-Glas-Hochhäusern, Rolltreppen und Strassenkreuzungen erbaut ("Tativille"). Jacques Tatis Kino, das er selber als "école du regard", Schule der Beobachtung, bezeichnet hat, verlangt vom Zuschauer einen wachen, aktiven Blick für die vielen Einzelheiten und Bezüge, die unsere alltägliche Umwelt ausmachen - auch wenn wir sie in der Realität normalerweise nicht beachten. Da sich die Filme einer narrativen Logik weitgehend verweigern, lassen sie sich nur ansatzweise "konsumieren". Tati interessiert sich nicht für psychologische Intrigen und große Katastrophen, umso mehr aber für die Art und Weise, wie sich der Zustand einer Gesellschaft im täglichen Mit- und Nebeneinander der Menschen offenbart. So gesehen hat Jacques Tati dokumentarische Spielfilme gedreht.

TATI, THEMEN:

Das jährliche Dorfschützenfest mit Karussell und Schiessbude ("Jour de fête" 1949), die Urlaubsfreuden im beginnenden Aufschwung der 50erjahre mit durchorganisiertem Sport und Spaß ("Les Vacances de Monsieur Hulot" 1953), eine topmoderne "garden party" im totschicken Garten des Plastikfabrikanten Arpel ("Mon oncle" 1958) oder die Eröffnung des Nobellokals "Royal garden" ("Playtime" 1967) - immer dreht sich die Geschichte um die Highlights im täglichen Einerlei, die kleine Flucht aus dem Trott. Zu diesen Highlights gehören auch die vielen modernen Erfindungen, die als faszinierende Wunder der Technik auftauchen und die Welt nach und nach verwandeln: Während sich die Dorfbevölkerung in "Jour de fête" (1949) noch für die die Postverteilung per Flugzeug oder die Idee eines mobilen Telefons begeistert und in "Mon oncle", als letzter Schrei, ein automatisches Garagentor angeschafft wird, sind wir mit "Playtime" in der Konsumgesellschaft angelangt, wo der Sinn der neuen Produkte sich darauf beschränkt, für einen Moment das Bedürfnis nach Abwechslung zu befriedigen: eine Brille mit aufklappbaren Gläsern zum problemlosen Schminken, eine Tür, die sich geräuschlos zuknallen lässt, ein Staubsauger mit Scheinwerfer für dunkle Ecken... Die angepriesenen Erfindungen, unentbehrliche kleine  Rädchen im spätkapitalistischen Wirtschaftskarussell, sind an sich unbrauchbare, zweckfreie Chindogus.

 

CREDITS

 

Regie: Uli Jäckle | Musik: Roman Keller | Kostüme: Gunna Meyer

von und mit:Irene Eichenberger, Luzia Schelling, Iza Terek-Jopkiewicz, Florian Brandhorst, Arnd Heuwinkel, Thomas Klees, Karl Miller

nominiert für den Preis für Freies Theater der Niedersächsischen Lottostiftung 2005

Gefördert vom Land Niedersachsen und vom Fonds Darstellender Künste

 

TERMINE

 

  •     Mär. 2006 | Kleist-Forum Frankfurt/Oder
  •     Nov. 2005 | Festival Freier Theater in Niedersachsen, Theater Wrede, Oldenburg
  •     Apr. 2005 | Staatstheater Stuttgart
  •     Feb. 2005 | LOT Braunschweig
  •     1. Okt. 2004 | Stadttheater Hildesheim | Premiere

 

PRESSESTIMMEN

 

CHAOS IN DER HEILEN WELT Theater ASPIK adaptiert auf geniale Weise das "System Tati" für die Bühne

"Ein Musette-Schalger dudelt heile Welt im Vierteltakt, eine freundliche Dame winkt unsichtbare Autos in Parkbuchten ein. Schon ist man mitten in der Zeit Jacques Tati's gelandet, die im Grunde immer zwei Zeiten zugleich ist. Doch dazu später mehr. Nach der beeindruckenden Großraum-Installation "Patrioten im Herz" hat Theter ASPIK ins Kleinformat zurückgefunden: Auf der intimen "theo"-Bühne des Stadttheaters geht es ja auch um einen, der das Lebenswerte stets im Kleinen gefunden hat: Jacques Tati, den 1982 verstorbenen, großen, eigenwilligen Komiker des französischen Kinos. ASPIK sspielt keinen Film nach, vielmehr geht es umdas "System Tati". Und da ist die ASPIK-Crew genau die Richtige, der Stoff scheint ihr auf den Leib geschneidert. Die Geometrie des Seins, die starren Schemata der Gesellschaft, der oberflächliche Glanz des Fortschritts: Sie waren die natürlichen Feinde des Monsieur Hulot, dem immer genug Sandkörnchen aus den Taschen seines Regenmantels, um das große Getriebe für einen Moment aus dem Rhythmus zu bringen. Das Spiel mit dem Chaos, der Blick für Risse im scheinbar festen Gefüge, der lustvolle Witz des Absurden: Das alles zeichnet auch die Arbeit des Tehater ASPIK asu. Welten werden schneller dekonstruiert, als sie entstehen können - notfalls indem man sie auf den Kopf dreht und so wieder auf dei Füße stellt. Symbole dieses Wandels sind die tragbaren, Stellwände, die die Schauspieler in virtuosem Tempo zu immer neuen Arrangements auf der schmucklosen Bühne verschieben. Zugleich erinnern sie an das seelenlose Bürolabyrinth aus "Playtime": Man kann darin suchen, wie man will, letztlich sind alles nur Fassaden, zwischen denen Chef und Sekretärin, Straßenkehrer, Parkplatzwächterin, eine tanzende Bauersfaru und Hulot höchstselbt ver(w)irrt durcheinanderwuseln. 

TATITIME ist gespickt mit solchen Filmzitaten. Der Fisch aus dem Bonzenvorgarten aus "Mon oncel", die rasende Postfrau auf ihrem Fahrrad (eine enge Verwandte des Boten aus Tati's "Jour de fête", Tati's Originalstimme aus "Les vacances de Monsieur Hulot", mit der der Antiheld seinen Namen buchstabiert. 

Abgesehen von ein paar Satzfetzen auf Französisch, Englisch und Deutsch findet bei ASPIK wie bei Tati Kommunikation nicht statt, jedenfalls nicht verbal. Izabela Terek-Jopkiewicz, Irene Eichenberger, Luzia Schelling, Florian Brandhorst, Thomas Klees, Karl Miller und Arnd Heuwinkel spielen ihr pantomimischs Talent aus und plagen sich aufs Schönste mit all den seltsamen Dingen, die ihnen die modernen Zeiten offerieren. Ein Taschenradio wird zur Bombe. Ein elektrischer Rasierapparat läuft auch ohne Strom weiter. Roman Keller unterlegt das Ganze kongenial mit seinen Soundmontagen: Wie Tati arbeitet er mit dem gesamten Spektrum von natürlichen und elektronischen Klängen, überzeichnet und konterkariert die Szenen, das Timing ist von verblüffender Präzision. 

Tatis Filme waren Gesellschaftsanalyse und Utopie in einem. Die Utopie aber entstand ausgerechnet durch einen nostalgischen Blick. Auch der schwingt in Jäckles Inszenierung mit, nicht zuletzt durch die von Gunna Meyer entworfenen Kostüme. So verschwimmen Gegenwart und Zukunft im jetzt einer entmenschlichten Gegenwart, die nur von verträumten Trotteln so demaskiert werden kann, dass man noch darüber lachen kann. Wo aber sollte man diese Trottel finden, wenn nicht im Theater? Und was wäre die Welt ohne sie? Kopflos, verloren, kalt."

Ralf Neite, Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 3. Oktober 2004

 

VIRTUOSES BALLETT DES LEBENS 

"(...) Man muss schon genau hinsehen bai Tati und seinem Alter Ego Mnosieur Hulot. Aber dann blickt man umso tiefer in die Risse der Gesellschaft. Diesen Blick hat sich Theater ASPIK zu eigen gemacht. TATITIME heißt das neue Stück unter der Regie von Uli Jäckle, dessen Premiere im ausverkauften "theo" des Satdttheaters Hildesheim mit lang anhaltendem Applaus gefeiert wurde. Tati, der 1982 verstorbene französische Komiker, stand in der Tradition von Charlie Chaplin, Buster Keaton und Harold Lloyd. ASPIK setzt diesen Weg fort. Die Menschen reden nicht miteinander, sondern allenfalls aneinander vorbei. Meistens bleiben sie stumm, während überlebenslaute Geräusche ihr chaotischen Handlungen kommentieren und karikieren. Ein urkomisches Ballett des Lebens in modernen Zeitenn virtuos unterlegt von den Geräuschcollagen Roman Kellers.

(...) Für Fans des französischen Regisseurs ist es ein Riesenspaß. für Unvorbelastete ein chaotisches Vergnügen mit Bildern, die nicht immer das sind, als was sie erscheinen: Bei einem pantomimischen Tischtennisspiel versprühen die Matchpartnerinnen fluoreszierende Flüßigkeit über den Boden der schmucklos schwarzen Bühne. Das Licht geht aus, Flugzeuglichter leuchten auf, die über eine nächtliche Stadt hinwegziehen - bis Monsieur Hulot (Arnd Heuwinkel) hereinstolpert, wie meistens, auf der Suche nach irgendwas oder irgendwem. ASPIK / Tati stellt die Welt auf den Kopf - das Erstaunliche (und Witzige!) dabei ist, dass sie erst dadurch wieder richtig herum steht. Weil alles Überflüssige in Trümmern versinkt und das eigentliche Leben wieder zum Vorschein kommt. Absurd aber schön!

lf, Peiner Allgemeine Zeitung, 6. Oktober 2004