MEIN JUNGES IDIOTISCHES HERZ
MEIN JUNGES IDIOTISCHES HERZ
von Anja Hilling
Ein Tag in einem Mietshaus. Frau Schlüter hat beschlossen, dass es ihr letzter sein wird. "Um drei Uhr und zwar pünktlich bin ich eine tragische Frau." Miroslav, der Fruchtsaftlieferant, den sie kurz zuvor bestellt hat, soll sie finden, als schöne Leiche im roten Kleid… Doch eine Kettenreaktion unvorhergesehener Ereignisse sorgt dafür, dass alles anders kommt: Der Hausmeister kommt vorbei, um das Waschbecken zu reparieren. Der Briefträger will ein Paket abgeben für Herrn Sandmann vom dritten Stock. Dieser entdeckt in der Wohnung des Hausmeisters die Baseballjacke einer Frau, die ihn schon lange in seinen Träumen verfolgt, während Frau Lachmär, die seit 69 Tagen kein Wort geredet hat, Miroslav im Treppenhaus begegnet und ihn zum Gulasch einlädt. Schließlich ist Frau Schlüter immer noch am Leben, während ein anderer tot in der Waschküche liegt…
"Mein junges idiotisches Herz" zeigt ein tragikomisches Stück Großstadtleben. Anja Hillings Figuren schweben schicksalsergeben und doch kämpferisch, schräg und selbstironisch durch ihren Tag. Das Stück zeigt Momentaufnahmen des ganz alltäglichen Wahnsinns — traurig, ernüchternd, komisch – eben ganz normal. Durch das exakt durchkonstruierte Timing der Ereignissen in den Singlewohnungen und im Treppenhaus fügen sich die Einzelschicksale allmählich zu einem unwahrscheinlichen, skurriles Panoptikum, in dem alles mit allem zusammenhängt.
CREDITS
Regie: Uli Jäckle | Musik: Roman Keller | Kostüme: Elena Anatolevna
mit: Luzia Schelling, Florian Brandhorst, Oliver Dressel, Arnd Heuwinkel, Michael Wenzlaff, Frauke Angel
Koproduktion mit dem LOT Braunschweig und dem Stadttheater Hildesheim. Gefördert durch das Land Niedersachsen, die Friedrich Weinhagen Stiftung Hildesheim und die Niedersächsische Lottostiftung
TERMINE
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19. Apr. 2012 | 18:00 | 'Frei_Zeichen' - Festival der freien Theater | KulturFabrik Löseke, Hildesheim
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24. – 25. Feb. 2012 | 20:00 | Eisfabrik Hannover
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Feb. 2008 | Eishalle Universität Hildesheim
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Okt. – Nov. 2007 | 03.2008 | LOT Braunschweig
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4. Okt. 2007 | LOT Braunschweig | Premiere
PRESSESTIMMEN
aus "FRAU SCHLÜTER REICHT'S"
"...Leben ist das, was passiert, während man andere Pläne schmiedet, heißt es. Frau Schlüter hat beschlossen, sich Punkt 3 Uhr umzubringen. Doch dann klingelt der Postbote. (...) Das Hildesheimer Künstlerkollektiv tourt mit dem Stück und hatte nun auch ein Gastspiel in Hannover. Etwas benommen, aber ausdauernd applaudieren die Zuschauer am ende im Theater in der Eisfabrik."Mein junges idiotisches Herz" hat beeindruckt, gefallen und nachdenklich gestimmt. In einem variablen, kreativen Bühnenbild aus Abflussrohren dröselt Regisseur Uli Jäckle die Geschehnisse aus der je eigenen Sicht der sechs Figuren auf. Wie selbstverständlich zeigt sich dabei, wie eins zum andern führt. Das Thema und die schauspielerische Leistung machen diese Inszenierung zu einem modernen Dauerbrenner."
Jacqueline Moschkau, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27. 02. 2012
..."Manchmal streift man an Hausfassaden vorbei und denkt sich fröstelnd: Welche Schiksale mögen sich da gerade kreuzen? So mag es auch der jungen Dramatikerin Anja Hilling gegangen sein, ihr Stück „Mein junges idiotisches Herz" ist ein Kaleidoskop skurriler Gestalten in einem Mietshaus. Mit der Inszenierung von Uli Jäckle mit seinem Hildesheimer Ensemble ASPIK eröffnete das Braunschweiger LOT-Theater das Festival „Schöne Aussicht“. Jäckle gilt bundesweit als großes Regietalent. Nicht zu Unrecht. In Braunschweig hat er im LOT mit KING KONG eine streng choreographierte Etüde über das Tier im Büromenschen abgeliefert."
..."Jetzt also das Mietshaus. Darin: eine Frau, die sich umbringen möchte , aber dauernd von irgendwem aufgehalten wird. Eine andere junge Frau, die sich in ihrer Wohnung verbarrikadiert hat und jeden Tag Gulasch kocht. Dann der Hausmeister, der mit seiner abwesenden Ehefrau Zwiesprache hält und der Nachbar, der sich selbst ein Paket nach Australien nachschickt, das aber back to sender kommt und bei der Serlbstmörderin landet. Und der Briefträger, der seine Frau beim Stones-Konzert im Regen kennen gelernt hat. Dann der Saftlieferant mit magersüchtiger Freundin, der mit der Gulaschköchin anbandelt: Das ist morbider Boulevard, aber Jäckle macht ein absurdes Traumspiel daraus. Das hat Stärken. Etwa die Rohre, die das Bühnenbild ausmachen: Sie sind unheimliche Geräuschkulisse, Mauern, Kochtopf, CD-Player, Armschiene, Klo,..."
"Die Szenen werden aus verschiedenen Perspektiven variiert gespielt, quasi wie bei einem kubistischen Bild. Vor allem die Darstellerinnen überzeugen in ihrer unsentimentalen Leidlust. Der anrührendste Moment ist, wie sie sich beäugen und für einen Moment Aug in Auge gegenüber stehen – und der Augenblick verlischt. (...) Viel Beifall im überfüllten Haus."
Martin Jasper, Braunschweiger Zeitung, 06.10.2007
aus "GUTE ZEITEN? SCHLECHTE ZEITEN!"
"Dass Luzia Schelling plötzlich als lebendes Puzzle-Teil auf der Bühne steht, ist nicht nur lustig anzuschauen, es hat auch Methode. Erstmal muss sie die Todesvisionen eines herzkranken Postboten illustrieren, dessen Lebensdrama darin besteht, dass seine Frau lieber puzzlet, als den Abend mit ihm zu verbringen. Und zum Anderen wird sie so auch gleich zum inoffiziellen Maskottchen des gesamten Stücks: „Mein junges idiotisches Herz“ von Anja Hilling ist nämlich ebenfalls ein ausgeschüttetes Puzzle aus Szenen, die sich mit staunenswerter Raffinesse zu einem großen Ganzen zusammen fügen: Zu einem Mietshausquerschnitt, zu einem Panorama der Großstadt-Entfremdung, zu einem Gruppenbild der Kontaktarmut im frühen 21. Jahrhundert."
Im 4. Stock hätten wir also Karin Schlüter (Luzia Schelling), die sich schön macht für ihren Selbstmord, weil sie als tragisch-attraktive Leiche vom Saftlieferanten (Oliver Dressel) gefunden werden möchte. Unten wohnt Hausmeister Eugen (Arnd Heuwinkel), der sehr sympathisch berlinert und sich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, der womöglich nur in seiner Einbildung existiert. Dann wäre da noch der verstörte Nachbar Sandmann (Florian Brandhorst), der das Paket zurückbekommt, das er an eine Frau geschickt hat, die ihm im Traum erschienen ist. Ein Paket, das ihn von jenem Postboten (Michael Wenzlaff) zugestellt wird, der schließlich bei der Verrichtung seines Jobs das Zeitliche segnet. Und was sich da nun alles im Treppenhaus rauf- und runter bewegt, wird durch den Türspion von der traumatisierten Paula (Frauke Angel) beobachtet, die sich nicht mehr unter Menschen traut und von morgens bis abends nur noch Gulasch kocht.
"Mit dieser tragikomischen Bestandesaufnahme der Erniedrigten und Beleidigten schlägt sich das HILDESHEIMER Theater ASPIK in Koproduktion mit dem LOT Braunschweig sehr gekonnt herum. Der Regisseur Uli Jäckle verzichtet auf allen Schnickschnack und benutzt einen beträchtlichen Vorrat an orangefarbenen Rohrleitungen für eine Vielzahl von verblüffenden Effekten und Verquickungen, die zwischen den Wohnungen, den Menschen und den Zeitebenen hin und her führen. Rau ist dieses Stück geworden, ein geradezu klassisches, sehr komplexes Text- und Sprachspiel der psychologischen Leidensmonologe, mit dem die junge Autorin Anja Hilling zur Nachwuchsautorin der Saison gekürt wurde. Schließlich geht’s hier um alles: um Selbstmord und Bulimie, Vergewaltigung und Herzinsuffizienz, um Eheprobleme und Verfolgungswahn. Das übertrifft locker jede Lindenstraße-Folge, und wären die Fäden nicht auf eine so gescheite und witzige Weise miteinander verknüpft, könnte es einem rasch zuviel des Unguten werden. Jäckle und seine furiosen Schauspieler, unter denen Frauke Angel mit erschütternder, anrührender Intensität heraussticht, nehmen das Ganze aber mit viel Humor und Wärme – was ihnen und dem Publikum gut tut. Man gönnt sich in der Wohnblock-Tristesse leisen Charme und laute Stones-Musik, einige echte Tränen und in Servietten eingewickelte Mohnschnecken als hoffnungsvollen Nachtisch nach dem ganzen Verzweiflungs-Gulasch. Am Ende liegt das ganze chaotische Elend ordentlich sortiert im Theater-Aspik – und wenn dann auch der Saftlieferant endlich da ist, läßt sich aufatmen, weil man weiß, dass nichts so heiß gegessen wird, wie’s vorher gekocht worden ist."
André Mumot, Hildesheimer Allgemeine, 14.02.2008